50 Jahre Erfahrung mit Diätvorschriften bei Diabetes

Vortrag beim Hecker-Symposium am 8. Mai 2021 (virtuell veranstaltet)

Meine eigene Erfahrung mit Diabetesdiät beginnt so ganz vage mit meinem Medizinstudium Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts / Jahrtausends. Ich möchte aber noch weiter ausholen und auch auf die Zeit vor und kurz nach der Einführung von Insulin in die Diabetestherapie zurückblicken, denn viele der damaligen Prinzipien zur Ernährung in der Diabetestherapie bekamen wieder Bedeutung, nachdem sie viele Jahrzehnte in Vergessenheit geraten waren. 

Vieles an unseren Ernährungsempfehlungen ist „versteinert“, Historie, zu vergessen oder als Kuriosität zu bestaunen.  

 

Hafertage 

Manche Diäten aus der Vorgeschichte waren „Verzweiflungsdiäten“:  Schontage: Safttage, Hafertage. Diese stammen noch aus der Vor-Insulin-Ära, so wurden die Hafertage von Dr. Carl von Noorden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beschrieben. Ich habe als Medizinalassistent 1977 noch ganz selbstverständlich Hafertage verordnet und erst sehr viel später gelernt, welche Mechanismen hinter dieser „Erfahrungsmedizin“ stecken. Dann waren diese Hafertage verpönt (Originalton Prof. Michael Berger, Düsseldorf: „Diabetes ist ein Insulinmangelzustand und kein Hafertagmangel!“). Erst nach der Jahrtausendwende begannen wir wieder, sie gezielt, mit Verstand und dann auch wieder großem Erfolg bei schwerer Insulinresistenz einzusetzen. Zunächst aber galten dann Hafertage als obsolet. Dafür kamen wieder andere Prinzipien auf: Verwendung von Zuckeraustausch-Stoffen, Fokussierung auf Kohlenhydrate, Primat der Diät. Broteinheiten als Austauscheinheiten wurden allerdings in Frage gestellt 

Mit der Einführung der Insuline, besonders der Verzögerungsinsuline, war es ein wichtiges Ernährungsprinzip, mit möglichst wenig Insulin auszukommen, und die Ernährung (und Bewegung) an die fix festgelegte Insulinwirkung anzupassen, alles zu reglementieren und jeden Misserfolg den Patienten anzulasten. Insulin wurde verordnet, Ernährung wurde verordnet, Diät wurde verordnet, und Notfälle und Misserfolge waren vorprogrammiert. Die Prinzipien dafür: Zuckerverbot, starre Vorschriften, Diätwaage, Essen nach Wecker, Zuckerersatz- und Zucker-Austauschstoffe, viele kleine Mahlzeiten. Daher musste dieses Prinzip starrer Vorschriften natürlich stets im Alltag scheitern. Denn Leben ist Veränderung und Leben ist Bewegung.  

Was waren die Konsequenzen? Schuldzuweisungen, Verbote, Reglementierung bis zur kompletten Verwirrung! Ich behaupte: Verordnung bedeutete Herrschaft. Diätverordnung ist ein Stück Herrschaftsausübung, so habe ich sinngemäß kürzlich in einem Feature gehört. 

Diese Vorschriften hatten auch zur Folge, dass eine Vielfalt an „Diätetischen Lebensmitteln“ auf den Markt kam: Diabetiker-Bier, Diabetikerlimonade, Diabetikerwein mit „gelbem Weinsiegel“, Diabetiker-Schokolade mit Diätsüße. 

 

1984 beschrieb Prof. Berend Willms drei Grundprinzipien:  

  • Diabetesdiät ist bedarfsgerecht /  

  • besteht aus mehreren kleinen über den Tag verteilten Mahlzeiten /  

  • soll freie KH (Zucker) vermeiden… -   

 

„Der T2D muss seine Nahrungszufuhr der verringerten Insulinausschüttung anpassen; der insulinbehandelte Diabetiker muss entsprechend der konstanten, starren Zufuhr von gespritztem Insulin eine konstante Zufuhr von Nahrungskohlenhydraten gewährleisten, was nur durch mehrere und kleine Mahlzeiten möglich ist…“ 

Und weiter: „Nach Augenmaß aus dem großen Topf geschöpft ist es zu ungenau…“ …auch Diätprodukte müssen abgewogen werden und sollten nur dann verwendet werden, wenn sie in die vom Arzt verordnete Diätvorschrift passen…“  

 

Noch 1990 schrieb Prof. E.F. Pfeiffer in „Das Ulmer Diabetiker ABC“  

  • Falsch ist: „Essen, wann und wieviel ich will“;  

  • Richtig ist: „Nahrungsmenge und Zeit einhalten“  

 

Diese Vorschriften führten zu gut gemeinten Tabellen mit eher abschreckender Wirkung¸ zum Kauf von unzähligen Diätwaagen, auch für T2D, zu einem Markt von „Diabetikerprodukten“:   

Vorschriften führen generell auch zu erzieherischer Sprache und Maßnahmen, zu „Erlaubnissen und zu Verboten“ und zu Begrifflichkeiten wie „Gehorsam“ (neudeutsch „Compliance“) oder „gewissenhaft“. Gewissen ist ein Begriff der Moral! „Frohen Herzens genießen“ dagegen „durfte“ man Süßstoffe und Süßungsmittel wie Fruktose und Sorbit.  

1984 Prof. Willms: („Was ein Diabetiker alles wissen muss): „…Nahrungsmittel, die Glukose und glukosehaltige Disaccharide und Honig enthalten, sowie alle damit zubereiteten Speisen, Getränke und Fertigwaren sind dem Diabetiker deshalb verboten…“ 

Nicht erlaubt sind Pasten oder Saucen mit Zuckerzusatz, wie Tomatenketchup, Mango-Chutney, (…) fertige Salatsaucen und Spezialsaucen wie Schaschlik-, Puszta-, Cumberlandsauce und der „süße Senf“ 

Ich habe bei meiner ersten Schulungserfahrung in Düsseldorf noch gelernt und so auch weitergegeben, dass bei Zucker in der Deklaration auf dem Etikett bis zur 4. Stelle das Lebensmittel „verboten“ bzw. zu „meiden“ ist  

Erst 10 Jahre später bei meiner Weiterbildung zum Diabetologen entstand aus „verboten“ das „in der Regel zu vermeiden“ (Hien 1995) oder „ungünstig“ und die Empfehlung von „gesundem Essen“ bereits 1995 Bad Kissingen 

Tja, und was bleibt? 

Nährstoffrelationen kamen und gingen, Diäten kamen und gingen, und werden dies auch noch weiterhin tun. Und hoffentlich ersetzen künftig nicht mehr Moralkategorien Wissenschaftlichkeit und die Prinzipien der Kommunikation auf Augenhöhe! 

 

Tröstlich ist, dass inzwischen das Prinzip von Prof. Karl Stolte von 1929, kurz nach der Verfügbarkeit von Insulin in der Diabetestherapie, wieder zu seinem Recht gekommen ist, nämlich: 

  • Nicht die Nahrungszufuhr an die Insulinwirkung, sondern die Insulinwirkung an die Nahrungszufuhr anpassen! 

  • Nahrung frei wählen „unter dem Schutz des Insulins“ 

  • „Unsere Patienten sind durch das Insulin einem Gesunden gleichgeworden, und vertragen infolgedessen auch die Kost eines Gesunden“ 

 

Und damit haben auch Zuckeraustausch-Stoffe wie Fruktose (dies ganz besonders!) und andere ihren Stellenwert verloren. Und natürlich ist es jetzt unser gültiges Prinzip, dass Insulin den KH angepasst werden sollte und nicht mehr umgekehrt! 

Vernünftig auf Dauer ist „Mittelmeerkost“: Reich an Ballaststoffen und ballaststoffreichen Kohlenhydraten, gesunden Ölen, wenig rotem Fleisch, dafür mehr Fisch.   

„Mittelmeerkost“ ist ein recht vager Begriff. Diese Empfehlung ist aber auf jeden Fall ehrlicher. Denn was steckte hinter diesen rigiden Diätvorschriften vor 50, 40 oder 30 Jahren? Nichts Anderes als Unsicherheit und Unwissen über die Ursachen von Blutzuckerschwankungen, über die Quellen des erhöhten Blutzuckers (z.B. auch die Rolle des Glukagons) und die Behauptung, selbst alles richtig zu machen und dem Betroffenen die Schuld an einer schlechten Stoffwechselkontrolle zuzuschieben und zu behaupten, man wisse alles besser und habe das Recht, zu bestimmen!  

 

Dr. Albrecht Dapp, Spaichingen